Die Fragen des Königs Milinda
Teil 4
Kapitel 1
5.1.7. Die Dauer der Lehre
„Der Erhabene, ehrwürdiger Nāgasena, hat einst den Ausspruch getan: ‚Nun aber, Ananda, wird die gute Lehre bloß fünfhundert Jahre bestehen bleiben.‘ Andererseits aber wieder hat er zur Zeit seines völligen Erlöschens auf die Frage des Pilgers Subhadda erklärt: ‚Solange, Subhadda, die Mönche richtig leben, solange wird die Welt nicht ohne Vollkommen-Heilige sein.‘ Dieses sind ausschlaggebende, keine weitere Möglichkeit zulassende, unzweideutige Behauptungen. Wenn also die erste Behauptung richtig ist, muß die zweite falsch sein. Ist aber die zweite richtig, so ist eben die erste falsch. Dies ist wiederum ein zweischneidiges Problem, das ich dir da stelle, gestrüppiger denn ein Gestrüpp, dichter denn ein Dickicht, fester denn ein Knoten. Beweise nun hier die Größe deiner Wissenskraft, dem mitten im Meere lebenden Leviathan gleich!“
„Beides, o König, hat der Erhabene gesagt. Doch sind diese beiden Aussagen sowohl dem Sinne als auch dem Wortlaute nach ganz und gar verschieden. Die eine nämlich betrifft die Zeitdauer der Satzung, die andere aber deren Ausübung: zwei Dinge, die einander vollständig ausschließen und von einander so weit entfernt sind wie der Himmel von der Erde, oder wie die Hölle vom Himmel, oder wie das Gute vom Bösen, oder das Glück vom Leiden.
Dennoch, o König, soll deine Frage nicht umsonst sein. Ich will dir dieselbe erklären, indem ich beide Aussagen nach ihrem wesentlichen Sinne miteinander vergleiche. Wenn der Erhabene sagt, daß die Satzung nunmehr bloß fünfhundert Jahre lang bestehen bleibt, so hat er durch solche Angabe ihres Verfalles die Grenze der noch übrig bleibenden Zeit festgestellt. Daher sagt er: ‚Die gute Lehre, Ananda, möchte noch tausend Jahre bestehen bleiben, hätte man nicht die Nonnen in den Orden aufgenommen. Nun aber, Ananda, wird die gute Lehre nur noch fünfhundert Jahre bestehen bleiben.‘ Hat nun etwa der Erhabene durch solche Aussage den Untergang der guten Lehre angekündet oder das Verständnis derselben bemäkelt?“
„Das nicht, o Herr.“
„Der Erhabene, o König, setzte fest, was verloren gegangen und das, was übrig geblieben war. Gleichwie ein Mann, o König, der an seinem Vermögen Einbuße erlitten hat, alles übrig Gebliebene an sich nehmen und den Leuten erklären sollte, daß ihm soviel Vermögen verloren, soviel übrig geblieben ist: ebenso auch, o König, erklärte der Erhabene den Göttern und Menschen das, was verloren gegangen, und das, was noch übrig geblieben war, wenn er sagte: ‚Nun aber, Ananda, wird die gute Lehre bloß fünfhundert Jahre bestehen bleiben.‘ Diese Aussage des Erhabenen, o König, besteht in einer Festlegung der Zeitdauer der guten Lehre. Was er aber vor seinem völligen Erlöschen dem Pilger Subhadda mitteilte, war eine Bemerkung, die der Lehre Ausübung betrifft. Du aber vermengst beide Dinge hinsichtlich ihres wesentlichen Sinnes. Wenn du es aber wünschst, werde ich dir die Übereinstimmung ihres wesentlichen Sinnes erklären. So höre denn gut zu und denke nach, mit unzerstreutem Geist!
Nimm an, o König, es befinde sich da ein Teich, der mit frischem Wasser gefüllt und bis zum Rand angeschwollen sei, eingefaßt, von einem Damm umgeben. Falls nun das Wasser in eben jenem Teich nicht abnimmt und außerdem noch beständig Regen fällt, wird da wohl das Wasser in jenem Teich abnehmen oder schwinden?“
„Nein, o Herr.“
„Und weshalb nicht?“
„Eben wegen dieses beständigen Regens, o Herr.“
„Ebenso auch, o König, ist der glorreiche Behälter der guten Lehre des Siegers gefüllt und angeschwollen mit den ungetrübten, frischen Wasser der Ausübung eines reinen Wandels, der Sittlichkeit, Tugend und Pflicht. Und dieses Wasser steigt höher, bis es schließlich den Gipfel des Daseins erreicht. Wenn da nun die Jünger des Erleuchteten immer wieder von neuem solches Wasser nachfüllen, nachströmen lassen, so wird dieser glorreiche Behälter der guten Lehre des Siegers eben lange, lange Zeit bestehen bleiben und die Welt nicht ohne Vollkommen-Heilige sein. (Nāgasena will offenbar sagen, daß die Kenntnis der Lehre nur dann bloß fünfhundert Jahre bestehen bleibt, falls nicht immer wieder von neuem nachgefüllt wird, d.h. falls die Mönche die Lehre nicht wirklich ausüben)
Oder wenn da, o König, ein mächtiges Feuer brennen und man immer wieder von neuem dürres Stroh und Holz und ausgetrockneten Kuhmist darauf legen sollte, würde da vielleicht wohl, o König, jenes Feuer ausgehen?“
„Nein, o Herr. Immer stärker würde es lodern, immer mächtiger aufleuchten.“
„Ebenso auch, o König, strahlt und leuchtet in dem tausendfachen Weltsystem die glorreiche Lehre des Siegers infolge der Ausübung eines reinen Wandels, der Sittlichkeit, Tugend und Pflicht. Wenn aber außerdem noch, o König, die Jünger des Erleuchteten, mit den fünf Kampfesgliedern (bala) ausgerüstet, allzeit unermüdlich weiterkämpfen, gefestigten Willens sich in den drei Schulungen (sikkhā) üben, die Gebote und Verbote vollkommen beachten, so wird eben diese glorreiche Lehre des Siegers lange, lange Zeit bestehen bleiben und die Welt nicht ohne Vollkommen Heilige sein. In diesem Sinne eben hat der Erhabene die Worte gesprochen: ‚Solange in dieser Lehre, Subhadda, die Mönche richtig leben, so wird die Welt nicht ohne Vollkommen-Heilige sein.‘
Wenn man da, o König, einen blanken, glatten, ganz und gar reinen, glänzenden, fleckenlosen Spiegel immer wieder von neuem mit ganz feinem, weichem Kreidepulver polieren möchte, würden sich da wohl, o König, auf jenem Spiegel Flecken, Unreinigkeit, Schmutz und Staub bilden können?“
„Nein, o Herr. Immer reiner, wahrlich, würde der Spiegel werden.“
„Ebenso auch, o König, ist die glorreiche Lehre des Siegers an sich fleckenlos, frei von dem Schmutze und Unrat der befleckenden Leidenschaften. Wenn da überdies die Jünger des Erleuchteten vermittels der in der Ausübung eines reinen Wandels, der Sittlichkeit, Tugend und Pflicht bestehenden Läuterung und Reinigung vom Schmutze die glorreiche Lehre des Siegers aufhellen, so wird dieselbe noch gar lange bestehen bleiben und die Welt nicht ohne Vollkommen-Heilige sein. In diesem Sinne eben hat der Erhabene gesagt: ‚Solange in dieser Lehre, Subhadda, die Mönche richtig leben, wird die Welt nicht ohne Vollkommen Heilige sein. Des Meisters Lehre, o König, wurzelt in ihrer Ausübung, in der Ausübung besteht ihr eigentliches Wesen. Solange also ihre Ausübung nicht schwinden wird, solange eben wird die Lehre bestehen bleiben.‘“
„Du sprachst da, ehrwürdiger Nāgasena, von dem Schwinden der guten Lehre. Was ist darunter zu verstehen?“
„Das Schwinden der guten Lehre, o König, ist dreierlei Art. Es gibt nämlich ein Schwinden ihrer Verwirklichung, ein Schwinden ihrer Ausübung und ein Schwinden ihrer äußeren Form. Zu einer Zeit nämlich, wo der guten Lehre Verwirklichung geschwunden ist, o König, da erlangt selbst der die Lehre richtig Ausübende keine Durchdringung derselben. Ist aber die Ausübung der Lehre geschwunden, so schwindet auch die in den Sittenregeln bestehende Vorschrift, und bloß die äußere Form bleibt bestehen. Wo aber die äußere Form der Lehre geschwunden ist, da ist auch ihre Überlieferung abgeschnitten. Dies, o König, ist das dreifache Schwinden der guten Lehre.“
„Trefflich erklärt und enthüllt hast du das tiefsinnige Problem, den Knoten gelöst, die Behauptungen der Gegner zunichte gemacht und zerschmettert, und verloren haben sie ihren Glanz vor dir, dem besten und edelsten unter den Meistern.“